Wo Schildkröten und Papageien ein und ausgehen
Sie kastriert Schildkröten, spült Kaninchenblasen, schleift Papageienschnäbel: Tierärztin Jessica Gull kümmert sich um kleine und grosse Probleme unserer Haustiere. Auf Besuch in ihrer Praxis in Uetikon am See (ZH).
Tagesstart
Caruso ist der erste Patient. Der kleine afrikanische Papagei pfeift schrill am Empfang der Tierarztpraxis und wird freundlich vom Team begrüsst. Er ist Stammkunde hier, da sein Schnabel übermässig wächst und alle zwei Monate geschliffen werden muss. Im Behandlungsraum nimmt Jessica Gull Caruso mit sicherem Griff aus dem Käfig. Mit dem Zeigefinger und Daumen der linken Hand hält sie seinen Kopf, mit der rechten Hand streckt sie seinen Bauch. «Damit er gut atmen kann», sagt die Tierärztin. Nun lässt sie ihn auf einen Bleistift beissen und legt sofort mit der Schleifmaschine los. Wenig später inspiziert sie den Schnabel, vergleicht ihn mit einem im Computer gespeicherten Foto von Caruso. Korrigiert nach. «Jetzt stimmts», sagt sie mit prüfendem Blick. Sie schmiert etwas Vaseline auf den Schnabel, damit er schön glänzt, stellt Caruso zurück in seinen Käfig und deckt ihn mit einem Tuch sachte zu. «Das war ein Stress für dich.»
Am Empfang warten schon drei Kaninchen in einer Reisebox: Einstein, Joshi und Lena. Letztere hat keine Beschwerden, ist aber mit dabei, weil sie sonst zuhause wüten würde, wie die Besitzerin erzählt. Einstein hat Probleme mit der Blase, sie war voller Gries. Wegen der sandartigen Ablagerungen musste er beim letzten Besuch seine Blase spülen lassen. Die weissen Stellen im Röntgenbild zeigen, dass sich wieder viel Gries in Einsteins Blase befindet. Jessica Gull schlägt vor, den achtjährigen Einstein zu sedieren, um ihm die Blase später ausmassieren zu können.
Schildkröte Rowdy ist schon am Vorabend in die Praxis eingerückt. Ihm steht eine grössere Operation bevor: Er wird kastriert. Jessica Gull gehört zu den wenigen Tierärzt:innen in der Region, die diesen Eingriff vornehmen. Gelernt hat sie ihn in ihrer Zeit im Tierspital. Per Spritze sediert sie Rowdy nun, damit er einschläft. An die Stelle, wo der Schnitt für die Operation erfolgen wird, gibt sie ein lokales Betäubungsmittel. Bis die Mittel wirken, reicht die Zeit noch für einen nächsten Patienten.


Schlechte Erfahrungen
Katze Mautzi muss geimpft werden. Sie faucht und knurrt in ihrer Box. Seit sie mit einer Bauchspeicheldrüsenentzündung auf dem Notfall gelandet ist, sei sie ängstlich, erklärt ihre Besitzerin. «Dann machen wir schnell», sagt Gull, und hebt die Katze mit einem Frotteetuch flink aus der Box. Diese springt davon und verzieht sich in eine Ecke des Raums. Jessica Gull nähert sich, nimmt sie sachte, aber bestimmt auf, impft sie in Windeseile mit der Spritze und verpasst ihr eine Tablette gegen Flöhe, Läuse, Zecken und Milben. Für den nächsten Besuch empfiehlt sie etwas Beruhigendes vorab. «Jetzt darfst du nach Hause», sagt sie zu Mautzi.
Die Praxisassistentinnen Leila Ochsner und Yazmin McLellan haben alles für die Operation von Rowdy vorbereitet. Jessica Gull zieht ihren blauen Operationskittel an, wäscht und desinfiziert sich die Hände je dreimal, streift sich Handschuhe und Maske über. Rowdy ist mittlerweile eingeschlafen und liegt intubiert auf dem Operationstisch. Durch ein Röhrchen – genannt Tubus – fliesst eine Mischung aus Sauerstoff- und Narkosemittel in seine Luftröhre. Auf dem Ultraschallmonitor ist zu sehen, wie sein Herz schlägt. Je nach Herzfrequenz und Puls passen die Praxisassistentinnen die Sedation an. In den nächsten zwei Stunden wird sich die Tierärztin mit dem Endoskop in Rowdys Bauchhöhle zu den Hoden vortasten, mit chirurgischen Instrumenten die Gefässe zwischen den Hoden und Nebenhoden abklemmen und beide Hoden in Präzisionsarbeit schliesslich entfernen.
Jessica Gull liebt es zu operieren, sie empfindet diese Präzisionsarbeit als «dankbare Abwechslung». Sie kastriert häufig Schildkröten und gibt auch Weiterbildungen dazu. Schildkröten seien in der Natur Einzelgänger. Halte jemand mehrere Tiere, zeigten die Männchen hypersexuelles Verhalten, verfolgten die Weibchen und drangsalierten sie. Dabei verletzten sich die Weibchen häufig. «Werden die Eier ausgebrütet, schlüpfen etwa zehn weitere Schildkröten, von denen jede wieder 100 Jahre alt werden kann.»


Aufwachen auf dem Wärmekissen
Rowdy erhält über den Tubus nun nur noch Sauerstoff. Es wird einige Stunden dauern, bis er nicht mehr dösig ist. Yazmin McLellan hebt ihn auf ein Wärmekissen und kontrolliert regelmässig, wie er atmet. Jessica Gull widmet sich nun dem sedierten Kaninchen Einstein. Sie legt ihn auf eine Wärmematte und massiert routiniert seine Blase. Sandiger Urin und kleine Steine fliessen auf die Unterlage ab.
Als nächstes ist Kaninchen Joshi dran. Er hat in letzter Zeit kaum noch gegessen. Sanft hebt Jessica Gull ihn auf die Liege und kontrolliert seine Zähne: «Die unteren Backenzähne sind zu lang!», erklärt sie. Joshi wird ebenfalls sediert. Zu zweit bringen sie ihn in die richtige Position, lassen ihm über einen Schlauch Sauerstoff zukommen und die Tierärztin schleift seine Backenzähne. «So, jetzt magst du wieder essen», sagt sie.
Nach der Mittagspause geht es weiter mit tierischen Terminen: Jessica Gull begrüsst den Welpen Scout mit einem «Hoi du, du bist aber gewachsen!», und impft ihn gegen Tollwut. Kurz darauf entwurmt sie fünf quirlige Farbmäuse mit der auf ihr Gewicht abgestimmten Dosis eines entsprechenden Mittels. Mit einem «Schätzi, chum», nimmt sie jede aus der Box und gibt sie auf eine Waage – sie wiegen 22 bis 32 Gramm. Anschliessend muss sie eine Ratte mit einem Tumor in der Bauchhöhle einschläfern, weil diese kaum mehr atmen kann. Sie nimmt sich Zeit für die Halterin, gibt ihrer Trauer Raum.

Vor Feierabend holt die Besitzerin die drei Kaninchen Einstein, Joshi und Lena ab und auch Rowdy kann wieder nach Hause. Er ist immer noch etwas beduselt, aber wohlauf. Die nächsten Tage wird er noch Schmerzmittel bekommen. «Denn», sagt Jessica Gull, «sie können uns ja nicht sagen, wie es ihnen geht.»