Vom Bauernhof zum Lebenshof

Datum: 01. July 2025
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Lässt sich ein Landwirtschaftsbetrieb mit fast 200 Schafen, Rindern und Pferden als Lebenshof betreiben? Ja, mit Hingabe und Aufopferung. Dea Alvino macht es auf ihrem Hof im Oberwallis vor.

Die Schafe spüren den Frühling. Als Dea Alvino ein paar Schritte aus dem Stall macht, setzt sich die Herde ebenfalls in Bewegung. Die vordersten überholen ihre Chefin und drängeln an das Eisentor des Vorplatzes. «Sie meinen, dass ich sie auf die Weide bringe», sagt Dea Alvino und lacht. Das Wetter würde dazu einladen: Es ist ein sonnig warmer Apriltag in Jeizinen am Südhang hoch über Gampel im Walliser Rhonetal.

Doch für den Weidegang ist es noch etwas früh im Jahr. «Ich muss zuerst die Weiden einzäunen – und noch ist genügend Heu vom letzten Jahr da», sagt sie. «Genügend» bedeutet: eine ganze Menge. Die Schafherde des Hofs Allegro besteht aus nicht weniger als 126 Tieren. Sie dürfen hier so leben, wie sie möchten – ihr Leben lang. Denn Dea Alvinos Hof ist ein Lebenshof.

Mehrheitlich liegen Hof und Flächen in den Bergen: Die Schafherde bleibt über den Winter im Stall in Jeizinen auf 1550 Metern über Meer, den Sommer verbringen sie auf Alpweiden in noch höheren Lagen. Stets begleitet werden sie von vier Herdenschutzhunden. Der andere Teil des Hofs liegt in der Talebene. Dort verbringen 26 Schottische Hochlandrinder, zehn Pferde und zwei Esel das Winterhalbjahr.

«Ich wollte bloss etwas Geld verdienen und möglichst bald wieder nach Australien reisen.» DEA ALVINO

Tessin, Australien, Gampel

Dass Dea Alvino heute einen Lebenshof im Wallis führt, ist einer Mischung aus Zufall, Zielstrebigkeit und Herzblut zu verdanken. Die gebürtige Tessinerin kam eher ungewollt ins Oberwallis. «Ich ging nach meiner Lehre als Sportphysiotherapeutin auf Reisen und blieb lange in Australien», erzählt sie. Bei einem Heimatbesuch schlug ihre Mutter einen Ausflug ins Thermalbad in Leukerbad vor – und fragte während des Wellness-Aufenthalts den damaligen Leiter der Alpentherme, ob er nicht eine Stelle
für ihre Tochter habe. Er bejahte – und Dea stimmte einem Ein-Monats-Vertrag zu. «Ich wollte bloss etwas Geld verdienen und möglichst bald wieder nach Australien reisen.»

Aus einem Monat wurden drei, dann ein Jahr. Dea Alvino überzeugte den Thermen-Besitzer davon, eine Schwimmschule aufzubauen, die sich zu einem beliebten Aqua-Club entwickelte. «Dann lernte ich meinen Lebenspartner kennen – und blieb», sagt sie und schmunzelt. Doch sie merkte, dass ihrem Leben quasi das Herzstück fehlte: der Bezug zu Tieren und der Natur. Sie begann, einem Bauern in Gampel auszuhelfen – und machte eine Lehre als Landwirtin. Und als der Bauer vor elf Jahren seinen Hof altershalber verkaufte, folgte Dea Alvino ihrer inneren Stimme. 2014 übernahm sie den Hof, entschied aber, künftig keine Tiere mehr zu schlachten oder sonstwie auszunutzen. So entstand aus einem Bauernhof ein Lebenshof.

Die einzigen Tiere auf Dea Alvinos Hof, die «arbeiten» und eine Ausbildung durchlaufen, sind die Herdenschutzhunde. «Immerhin ist Herdenschutz auch Tierschutz», sagt sie. Der ehemalige Hofbesitzer sei ein Herdenschutz-Pionier im Wallis gewesen, erzählt sie. «Er schaffte die Hunde aber damals noch nicht wegen des Wolfs an, sondern um seine Lämmer vor Kolkraben zu schützen.» Dea Alvino übernahm die Hunde und arbeitet heute als Ausbildungsbetrieb für die Fachstelle Herdenschutzhunde – deshalb heisst ihr Hof heute offiziell «Hof Allegro / Herdenschutzzentrum».

Dea Alvinos Hunde sind vorbildlich erzogen: Ihr Umgang mit den beiden Besuchern ist alles andere als aggressiv. Anouk beispielsweise ist neugierig und lässt sich vom Fotografen noch so gerne streicheln. Alec hingegen ist scheu und zurückhaltend. Probleme mit dem Wolf hatte Dea Alvino bislang noch keine. Ob das an den Schutzhunden liege, wisse sie aber nicht. «Vielleicht ist es Zufall – oder unsere Alpweiden liegen bislang abseits des Streifgebiets der Wölfe.»

Viele Tiere geben viel Arbeit: Allein für das Füttern und Kontrollieren der Schafe benötigt Dea Alvino, die den Hof alleine führt, jeweils den ganzen Vormittag. Und nicht immer ist alles eitel Sonnenschein am Walliser Sonnenhang. Heute etwa liegt eines der Schafe im Sterben. «Es ist ein altes Tier und kann einfach nicht mehr aufstehen», sagt Dea Alvino, während sie es in eine bequeme Lage umbettet. «Mir ist es wichtig, dass die Tiere bei mir in Würde und in Begleitung einschlafen können.» Spätestens am Abend werde sie deshalb wieder nach dem Schaf schauen.

Nun aber muss sich Dea Alvino um die Rinder und Pferde im Tal kümmern. Sie kurvt die Strasse nach Gampel hinunter und hält an einem Unterstand, aus dem grosse Kulleraugen zwischen langen Strähnen von rostroten Haaren hervorschauen: Mit ihren wuchtigen Hörnern wirken die Schottischen Hochlandrinder zwar gefährlich. Doch es handelt sich um sanftmütige Riesen. Frida, eine Rinder-Oma, geniesst es sichtlich, als Dea Alvino in die grosszügige Weide tritt und ihr mit einem Striegel einige Haarfetzen entfernt.

Kein Walt-Disney-Streichelzoo

Ein paar hundert Meter weiter liegt die Weide der Pferde und Esel. Hier lebt auch der Namensgeber des Hofs: Allegro, ein 21 Jahre alter Haflinger mit weissem Stirnfleck. Er war das erste Tier, dem Dea Alvino das Leben rettete. «Ich kaufte ihn, als ihn sein Besitzer schlachten lassen wollte, und brachte ihn auf den Hof, der damals noch dem Vorbesitzer gehörte.»

Wie finanziert sich ein Lebenshof mit derart vielen grossen Essern? Dea Alvino lacht – und antwortet mit einer Warnung. Sie erhalte immer mal wieder Besuch von Menschen, die selbst einen Lebenshof führen möchten. «Manche haben das Gefühl, hier gehe es zu und her wie in einem Walt-Disney-Film, in dem man ewig Tiere streichelt. Aber das ist falsch. Ein Lebenshof bedeutet viel Arbeit – und sein Leben zu opfern. Es gibt keine freien Tage und keine Ferien.»

Um solch ein Projekt am Laufen zu halten, seien Spenden sowie die Unterstützung durch einige äusserst treue Tierpat:innen sowie Stiftungen unerlässlich, sagt sie. «Aber das reicht nicht, ich arbeite zusätzlich jeden Abend als Schwimmlehrerin.» Es klingt weder frustriert noch verbittert. Denn für Dea Alvino ist dieses Leben in Ordnung. «Das ist meine Welt», sagt sie. «Ich tue, was mein Herz mir sagt.»

Hilfe erwünscht

Heuen und Striegeln

Dea Alvino ist auf ihrem Lebenshof immer wieder auf helfende Hände angewiesen. Besonders im Sommer, wenn die Wiesen gemäht werden müssen. Im steilen Berggebiet ist das alles Handarbeit. Und jeweils Anfang Mai findet der «Striegeltag» statt. An diesem Tag der offenen Tür haben Besucher:innen die Möglichkeit, den Hof kennenzulernen, beim Striegeln der Hochlandrinder und Pferde zu helfen – und allenfalls für das eine oder andere Tier eine Patenschaft zu übernehmen.

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