Glücksfall für Kuh und Kalb
Auf dem Herterenhof dürfen sich Kühe und Kälber auf einen gemeinsamen Sommer freuen: Die neuen Bewirtschafter:innen des Landwirtschaftsbetriebs in Wettingen AG setzen auf die innovative muttergebundene Kälberaufzucht. Der Aufbau der Mutter-Kalb-Herde verlief reibungslos.

Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus – und Michelle Gusset und Sven Wilms fragten sich: Was fangen wir an mit unserem «zweiten Lebensabschnitt»? Sie, bisher kaufmännische Angestellte, entschied sich für eine vierjährige Ausbildung zur Fachperson in biodynamischer Landwirtschaft. Er, eigentlich Übersetzer, machte eine Lehre als Käser. Gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Michael Zvizdic gründeten sie eine GmbH und übernahmen auf Anfang dieses Jahres den Herterenhof im aargauischen Wettingen.
«Die muttergebundene Kälberaufzucht war in meiner Ausbildung ein grosses Thema», erzählt Michelle Gusset. Deshalb sei für sie rasch klar gewesen, dass für sie nur diese wesensgerechtere Tierhaltung infrage komme. Statt wie auf Schweizer Bauernhöfen üblich unmittelbar nach ihrer Geburt von ihren Müttern getrennt zu werden, dürfen Kälbchen bei der sogenannten Mutter-Kalb-Haltung (MUKA) mindestens drei bis zehn Monate bei der Mutter bleiben.
Um ihre MUKA-Herde aufzubauen, konnten Gusset, Wilms und Zvizdic von zwei Höfen 19 Milchkühe und Rinder übernehmen. Heute werden diese bereits von neun Kälbern begleitet. Um den Herterenhof für die neue Bewirtschaftungsform
vorzubereiten, konnte das Team auf die Unterstützung der Fachstelle MUKA zählen.

Gute Voraussetzungen
Deren Leiterin Cornelia Buchli besucht schweizweit Betriebe, um sie für eine Umstellung auf die Mutter-Kalb-Haltung zu beraten. Der Herterenhof habe für die Umstellung auf MUKA eine gute Ausgangslage gehabt, sagt Buchli. «Die früheren Pächter hatten einst Milchvieh-Haltung betrieben, dann aber auf Mutterkuh-Haltung umgestellt. Aus beiden Haltungsformen waren Einrichtungen und Geräte vorhanden, die für die MUKA-Haltung wichtig sind.»
Das bestätigt Michelle Gusset. Die Ratschläge bei der Umstellungsberatung seien sehr wertvoll gewesen, erzählt sie. «Insbesondere bezüglich Raumaufteilung und Begegnungszonen, in denen die Mutterkühe ihre Kälber säugen und Sozialkontakt zueinander pflegen können.» Glücklicherweise seien nur wenige Anpassungen nötig gewesen. Ein bestehender Stall und ein Laufstall bieten Platz für rund 90 Tiere. Und aus der früheren Milchvieh-Haltung war noch ein Melkstand vorhanden. «Wir mussten ihn einfach in Stand setzen», sagt Gusset.
Im Laufstall dürfen nun die Kuhmütter und ihre Kälber die ersten zwei Monate Tag und Nacht miteinander verbringen. Wird es den Jungtieren zu bunt in der Herde, können sie sich jederzeit in einen Kälberschlupf zurückziehen – ein Gehege, in das bloss Kälber gelangen. Ab zwei Monaten beginnt Michelle Gusset langsam mit der Entwöhnung des Kalbs von der Mutter. Zuerst verbringt es einen halben Tag im Kälberstall. Dann stufenweise immer mehr Zeit – bis es mit drei Monaten bereit ist für die Kälberweide.
Aus MUKA-Milch wird MUKA-Käse

Insgesamt sind die ersten MUKA-Monate auf dem Herterenhof reibungslos verlaufen. «Die Tiere machen es prima. Sie sind extrem fit und sehen gesund aus», sagt Michelle Gusset. Sie selbst habe sich allerdings etwas Gelassenheit antrainieren müssen. «Die frischgebackenen Kuhmütter behielten sehr viel Milch für ihre Kälber zurück, das hat mich etwas nervös gemacht. Doch nach vier Monaten, wenn die Kälber abgetränkt sind, geben die Kühe ihre Milch im Melkstand gut ab.»
Seit Mai geht diese Milch direkt in die hofeigene Käserei. Dort verarbeitet Sven Wilms den Rohstoff zu Joghurt, Quark und verschiedenen Käsesorten. Abnehmer ist die Genossenschaft basimilch, die ihre Käserei von Dietikon ZH auf den Herterenhof verlegt hat. Ein «Glücksfall», wie Michelle Gusset sagt. Die Genossenschaft zählt rund 200 Mitglieder, wovon ungefähr 120 ein Käse- und Milchprodukte-Abo gelöst haben. «So haben wir bereits einen Kundenstamm und können unsere MUKA-Milch zu einem fairen Preis direkt vermarkten.»
Für ein würdiges Tierleben
Das neue Team sieht im Herterenhof grosses Potenzial. Zum Hof gehören auch 14 Hektaren Ackerflächen. «Dort möchten wir vielfältiger werden, allenfalls Gemüse anbauen und über die Genossenschaft direkt verkaufen», sagt Michelle Gusset. Auch das Fleisch aus der MUKA-Aufzucht könnte Teil eines Genossenschafts-Abos werden. «Wir wollen die Kälber selbst aufziehen, bis sie ein Jahr alt sind, und bemühen uns um die Zulassung für die schonendere Hoftötungsmethode.»
Alles folgt dem Ziel, nachhaltige und qualitativ hochstehende Nahrungsmittel zu produzieren. Und den Tieren, wenn man sie schon nutzt, ein würdiges Leben zu ermöglichen. «Natürlich ist es ein Risiko, einen Betrieb so aufzubauen», sagt Michelle Gusset. Aber wie heisst es so schön: Die Welt gehört den Mutigen.