Leben und leben lassen?
«Beim Thema Fleischessen ist meine Devise ‹leben und leben lassen›. Ich selbst esse Fleisch, aber es stört mich nicht, wenn das andere nicht tun.» Just vor ein paar Tagen habe ich diese Sätze wieder gehört.
Mir fiel sofort eine ähnliche Formulierung ein: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Sie stammt von Albert Schweitzer, dem grossen Philosophen, Theologen, Mediziner und Organisten, dessen 150. Geburtstag und 60. Todestag wir dieses Jahr feiern. Es ist der zentrale Satz seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, vor allem Leben.
«Leben und leben lassen.» Das war für Schweitzer nicht einfach eine Floskel. Er wusste auch, wie schwierig, ja unmöglich das ist. «Auf tausend Arten», schreibt er, «steht meine Existenz mit anderen in Konflikt.» Trotzdem existiert da diese Verpflichtung: Jeder Mensch soll das Leben seiner Mitgeschöpfe respektieren. So «kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserm Bereich befindlichen Kreatur in Bezug zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen.» Das ist heute dringlicher denn je. Wir brauchen mehr Respekt vor und mehr Verantwortung für das Leben der anderen Kreaturen, die auch leben wollen.
Die Toleranz, die die Fleischesserin zeigt, wenn sie grosszügig den Veganer am Tisch «respektiert», blendet das Leid und das Lebensrecht des Tiers aus, dessen Fleisch auf ihrem Teller liegt. Denn auch das Kalb, das jetzt Bratwurst ist, war «Leben, das leben will». Was ist mit unserer Verpflichtung, sein Leben nicht anzutasten? Diese ethische Verpflichtung ist ja für viele Veganerinnen und Veganer der Grund dafür, auf tierische Produkte zu verzichten. Darum hinterlässt das «leben und leben lassen» aus dem Mund eines Fleischessers halt doch einen faden Beigeschmack.
«Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» ALBERT SCHWEITZER

Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Das bürdet uns auf, uns in unserer Unterschiedlichkeit zu respektieren und mit Menschen friedlich zusammenzuleben, die anders ticken als wir. Wir sollen andere «leben lassen», so fremd und unsympathisch sie uns sein mögen. Das erfordert Toleranz. Aber das heisst nicht, dass wir deswegen blind sein sollen für das Gute und taub für die Stimme unseres Gewissens und die Schreie der Tiere aus dem Schlachthof.
Fleischessen geht auf Kosten der Tiere, von fühlenden Wesen, die nicht für sich selbst sprechen können und deren Lebensrecht systematisch verletzt wird. «Das schläckt kei Geiss ewäg», oder? Leider tun wir in unserer Gesellschaft aber alles dafür, diese Themen nicht zu diskutieren, weder im Privaten noch im Politischen. Die Toleranz geht so auf Kosten all derer, die unter den herrschenden Machtverhältnissen leiden, Menschen und Tiere.

Der Tierethiker Christoph Ammann ist Mitglied im Stiftungsrat von ProTier. Der Vater von drei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich Witikon, wo er als reformierter Pfarrer arbeitet. Er ist Präsident des «Arbeitskreises Kirche und Tiere» (AKUT) Schweiz.