Mitgefühl als Schwäche unserer Zivilisation?
Elon Musk ist bekanntlich nie um starke Thesen verlegen, und so hat er kürzlich eine solche rausgehauen: «Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie.»
Leider ist das aus dem Mund eines Technokraten wie Musk mehr als eine harmlose Dummheit. Die menschliche Natur mit allen biotechnologischen Methoden verbessern zu wollen, ist das eine, die menschliche Neigung zum Mitfühlen auf den Mond zu wünschen, das andere. Es widerspricht meinen tiefsten Überzeugungen, auch als Ethiker. Denn ohne Mitgefühl gibt es auch kein ethisches Empfinden.
Dass das Leiden anderer uns nahegeht, ist so ziemlich das Letzte, das man Menschen austreiben sollte. Natürlich gibt es Fälle, in denen Menschen ermutigt werden müssen, ihrem Mitgefühl nicht zu folgen und beispielsweise den Täter, der ihnen Schlimmes angetan hat, anzuzeigen, auch wenn er ihnen «Leid tut» oder sie sich ihm emotional verbunden fühlen.
Aber die menschliche Neigung, vom Leiden anderer berührt zu werden, muss nicht «überwunden», sondern vielmehr kultiviert, verfeinert und gefördert werden. Die Erziehung der Gefühle ist ein zentraler Bestandteil ethischer Bildung. Unsere Zivilisation krankt sicher nicht daran, dass es zu viel Mitgefühl gibt, sondern zu wenig. Nichts zeigt das deutlicher als die Situation von Tieren, insbesondere der sogenannten «Nutztiere», die wir gedankenlos und massenweise töten, weil wir es können und auf billiges Fleisch nicht verzichten wollen. Wir limitieren unser Mitgefühl, wir schauen weg, und darin liegt der ethische Skandal.
Besonders ärgert es mich, wenn jemand das Hohe Lied auf die Empathie singt und fast im selben Atemzug das Leid der Tiere unsichtbar gemacht wird, wie jüngst in einer kirchlichen Verlautbarung zum Thema Welthunger. «Veränderung entsteht nicht durch Schuldzuweisungen, sondern durch Empathie – für sich selbst, für andere und für die Welt», gibt da der Autor von sich. Dass damit aber nicht die Empathie mit Mastschweinen gemeint ist, wird vorher deutlich. Seine Kinder, so führt er aus, lernten die Welt von Lebensmitteln nicht durch Verbote kennen, sondern durch Erlebnisse. Dazu zählt er auch das «Wursträdli».
Seine Kinder lernen damit, dass Wurst etwas Feines ist und der Metzger ein netter Mensch, aber gleichzeitig auch, dass ein Schwein etwas ist, das zu schlachten und zu nutzen offenbar in Ordnung ist. Wir berühren hier einen extrem wichtigen Aspekt unseres Umgangs mit Tieren: Gerade Kinder reagieren nämlich sehr stark, wenn sie realisieren, dass für ihr Wienerli ein Tier getötet wurde.
Der Ansatz dafür, den Fleischkonsum zu hinterfragen, wäre damit gegeben. Aber Kinder lernen, dass das Mitleid mit Tieren, die für unsere Wurst gemetzget wurden, offenbar etwas ist, das sie sich abgewöhnen sollen. Gilt es doch als das Normalste der Welt, einen Cervelat zu essen. Nur wenige «Exot:innen» machen da nicht mit. Es wäre ein Einfaches, den Fleischkonsum mit Kindern zu hinterfragen. Stattdessen findet aber eine Desensibilisierung statt. Und diese wird erst noch staatlich gefördert mit über 30 Millionen für die «Absatzförderung» tierischer Produkte allein in der Schweiz.
Der Skandal ist also nicht, dass ein Individuum wie Elon Musk Empathie für eine Schwäche hält. Das Traurige ist, dass unsere Gesellschaft es für normal hält, Empathie zu rationieren. Darunter leiden ganz viele Menschen, aber auch unzählige Tiere, die unser Mitgefühl dringend nötig hätten.
«Ohne Mitgefühl gibt es auch kein ethisches Empfinden.» CHRISTOPH AMMANN
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Das bürdet uns auf, uns in unserer Unterschiedlichkeit zu respektieren und mit Menschen friedlich zusammenzuleben, die anders ticken als wir. Wir sollen andere «leben lassen», so fremd und unsympathisch sie uns sein mögen. Das erfordert Toleranz. Aber das heisst nicht, dass wir deswegen blind sein sollen für das Gute und taub für die Stimme unseres Gewissens und die Schreie der Tiere aus dem Schlachthof.
Fleischessen geht auf Kosten der Tiere, von fühlenden Wesen, die nicht für sich selbst sprechen können und deren Lebensrecht systematisch verletzt wird. «Das schläckt kei Geiss ewäg», oder? Leider tun wir in unserer Gesellschaft aber alles dafür, diese Themen nicht zu diskutieren, weder im Privaten noch im Politischen. Die Toleranz geht so auf Kosten all derer, die unter den herrschenden Machtverhältnissen leiden, Menschen und Tiere.

Der Tierethiker Christoph Ammann ist Mitglied im Stiftungsrat von ProTier. Der Vater von drei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich Witikon, wo er als reformierter Pfarrer arbeitet. Er ist Präsident des «Arbeitskreises Kirche und Tiere» (AKUT) Schweiz.