Ziviler Ungehorsam ist demokratisch! – Gastbeitrag von Professor Markus Wild

 

Markus Wild ist Philosophie-Professor an der Universität Basel und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Geist der Tiere. Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehört die Tierphilosophie.

1. Dezember 2020

Im September 2020 demonstrierten Klimaaktivist*innen auf dem Bundesplatz lautstark und sichtbar, um Forderungen an das Parlament zu richten, deren Ziel es ist, schnellere und weitgehendere Massnahmen gegen den Klimawandel zu erreichen. Da solche Kundgebungen während der Session verboten sind, handelte es sich um einen Gesetzesbruch. Wer bewusst ein Gesetz bricht, um auf einen schweren Missstand aufmerksam zu machen, bedient sich des Mittels des Zivilen Ungehorsams.

Ich reiste mit Titus nach Bern, um der Aktion meine Sympathie zu zeigen. Gelegenheit ergab sich schnell. Vor mir ging ein älterer Herr und meinte zu den Aktivist*innen, dass sie sich mit dieser Aktion viele Sympathien verscherzten. Ich entgegnete, dass sie meine Sympathien auf jeden Fall hätten. Spontaner Applaus. Einige Umstehende schüttelten den Kopf. Wegen des Beifalls begann Titus aufgeregt zu bellen. Also trat ich beiseite und stiess wieder auf den älteren Herrn. Er meinte aufgewühlt: "Wir haben die beste Regierung der Welt".

Das ist ein interessanter Punkt. Warum sollte man in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Schweiz zum Mittel des zivilen Ungehorsams greifen? Wir haben viele legale Möglichkeiten der politischen Teilhabe: Wahlen, Abstimmungen, Initiativen, Referenden, Demonstrationen, Warnstreiks, Parteigründung, Lobbying, Leserbriefe usw. Stellt jemand, der bewusst Gesetze bricht, um politische Forderungen zu erheben, nicht die ganze politische Ordnung in Frage? Nein. Ziviler Ungehorsam gehört zu einer gesunden demokratischen Gesellschaft.

Wer zivilen Ungehorsam begeht, ist weder Verbrecher noch Revolutionärin. Ein Verbrecher bricht Gesetze aus Eigeninteressen und will im Verborgenen bleiben, der Ungehorsame bricht Gesetze für Gemeininteressen und macht dies öffentlich. Die Revolutionärin möchte eine Regierung oder ein System stürzen, die Ungehorsame will, dass Regierung und Parlament endlich ihre Arbeit machen. Zudem sind die Aktivist*innen wegen ihres jugendlichen Alters von den Folgen unseres klimapolitischen Schneckentempos voraussichtlich stärker betroffen.

Ziviler Ungehorsam ist ein Mittel der Kommunikation: Man will schwere Missstände dramatisieren, weil sie dramatisch sind, und fordert schnelle und effektive Massnahmen dagegen. Wer es benutzt, möchte mitteilen, dass es ernst ist, die Zeit drängt, der Missstand gross ist, er oder sie bereit sind, die eigenen Interessen hintan zu stellen. Der Direktor einer Krankenkasse, der ankündigt, entgegen der gesetzlichen Lage ein weitaus billigeres, aber ebenso wirksames Medikament zu vergüten, bedient sich ebenso des zivilen Ungehorsams wie die Aktivistin, die in Ställe eindringt, um die schockierenden Zustände der Hühnerhaltung zu dokumentieren und öffentlich zu machen.

Sie alle kümmern sich um wichtige, öffentliche Güter (Umwelt, Gesundheit, Tierwohl) und drängen auf Gerechtigkeit (für künftige Generationen, Vulnerable oder Tiere). Wer hierbei nur den Gesetzesbruch sehen kann, dem fehlen die beiden Sinne, mit denen demokratische Gesellschaften sehen: der Gerechtigkeitssinn und der Partizipationswille. Und natürlich besteht das Ziel auch darin, fruchtbare Spannungen und damit Debatten zu erzeugen. Dass Titus, der ältere "Herr", die Umstehenden und ich am Rande der Aktion emotionalisiert worden sind, ist genau richtig. Darum ist ziviler Ungehorsam demokratisch!