Krebsbehandlung beim Tier - ethisch vertretbar?

Datum: 30. June 2022
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Eine überwiegende Mehrheit der Tierbesitzer:innen sieht ihre Hunde und Katzen als Familienmitglieder. Solche tiefen Beziehungen mit (Haus-)Tieren sind in unseren Breitengraden ein akzeptiertes soziales Phänomen. Als Folge daraus sind in den letzten Jahrzehnten die tiermedizinischen Behandlungsmöglichkeiten für Haustiere explosiv gewachsen. Inwieweit ist es vernünftig, diese hochstehenden Therapien bei Krebserkrankungen anzubieten? Wissen wir denn, was die Tierpatienten selbst möchten? 

Der Stellenwert des Haustiers weicht in vielen Bereichen von dem des Nutztiers ab, da das Haustier oft eine intensive soziale Rolle spielt, als “Familienmitglied” betrachtet wird. Solche tiefen Beziehungen mit Tieren sind breit akzeptiert und entsprechend stark sind in den letzten Jahrzehnten die Behandlungsmöglichkeiten für Haustiere gewachsen. So sind bildgebende Verfahren wie Computer- oder Kernspintomografie, aber auch Therapien wie Gelenksprothesen, Immuntherapien, Dialyse oder eben auch Krebstherapien meist problemlos zugänglich.  

Mit modernen Behandlungsmethoden lassen sich viele Tumoren heilen oder langfristig gut beherrschen, die Tiere führen oft ein komplett normales Leben weiter. Die Diagnose einer Krebserkrankung ist allerdings eine sehr beunruhigende Nachricht für Tierbesitzerinnen und Tierbesitzer. Oftmals wissen sie nicht, wie sie im besten Sinne ihres Tieres entscheiden sollen. Die Möglichkeit, den Tierpatienten zu "erlösen", d.h. zu euthanasieren, fügt eine zusätzliche Handlungsoption ein. 

«Bei unseren Patienten geht es oft weniger um die Länge des Lebens, sondern um die Maximierung der Lebensqualität – um das "gute Leben"».

Prof. Dr. med. vet. Carla Rohrer Bley

Als Tierärztinnen und Tierärzte funktionieren wir somit bei schwierigen Entscheidungen einerseits als medizinische, andererseits auch als moralische Berater des Tierbesitzers oder der Tierbesitzerin. Gemeinsam müssen wir für den nicht-entscheidungsfähigen Tierpatienten entscheiden. Das heisst, es wird im «besten Interesse» des Tieres gewählt – allerdings ist dieser Begriff nicht klar definiert. Man kann sich unter Umständen auch nicht darauf verlassen, dass die Tierbesitzer:innen das beste Interesse des Tieres vertreten, da sie emotional oft sehr stark involviert sind und auch sein sollen. Für die Tierärztin oder den Tierarzt kann hier ein moralischer Konflikt entstehen: Anhand welcher Punkte sollen wir einerseits das Tierwohl, andererseits das Wohl und die Wünsche der Besitzer:innen gegeneinander abwägen?  

Unsere Rechtsnormen, die in Tierschutzgesetz und Tierschutzverordnung festgehalten sind, fordern, die „Würde der Kreatur“ zu berücksichtigen. So betrachten wir Haustiere als empfindungsfähige Lebewesen, nehmen auf ihr Leid Rücksicht und versuchen dieses zu vermeiden. Um als Tierärztin oder als Tierarzt für die praktische Anwendung eine ethische Orientierung zu haben, können wir beispielsweise die vier Prinzipien von Beauchamp & Childress aus der Medizinethik einbeziehen. Auf der Basis dieser Prinzipien kann eine Abwägung für oder gegen eine weitere Behandlung stattfinden.

Die Prinzipien von Beauchamp & Childress

Die Prinzipien von Beauchamp & Childress orientieren sich an gängigen Moraltheorien, aber auch am gesunden Menschenverstand. So haben Tierärzt:innen die moralische Verpflichtung:

  1. keinen Schaden anzurichten (Nicht-Schadens-Prinzip)
  2. eine Behandlung durchzuführen (Fürsorge / Hilfeleistung)
  3. die Selbstbestimmung des Patienten zu respektieren (Autonomie)
  4. Patienten fair und gerecht zu behandeln (Gerechtigkeit)

Häufig werden diese Prinzipien in der Veterinärmedizin bereits intuitiv, wenn auch nur teilweise und in leicht modifizierter Form angewendet. Für die konkrete Abwägung des Wohls von Tier und Tierbesitzer:innen stellen sich vor allem zwei der Prinzipien als sinnvoll heraus: das Nicht-Schadens-Prinzip und das Prinzip der Hilfeleistung / Fürsorge.

Kriterien eines guten Lebens

Ich selbst liste oft mit einem Tierbesitzer gemeinsame Kriterien eines guten Lebens auf.  Die Kriterien für Wohlbefinden und eine gute Lebensqualität und somit ein „lebenswertes Leben“ können wir bei einem Hund oder einer Katze gut benennen:

  • Die Tiere sollen ein aktives Bewusstsein und funktionierende Sinnesorgane haben.
  • Sie sollen die Fähigkeit für ausreichende soziale Interaktionen mit anderen Tieren oder den Tierbesitzern haben.
  • Sie sollen fähig sein, sich richtig zu bewegen, d.h., sie brauchen Mobilität, die Futteraufnahme, Nestbau und eigene Pflege erlaubt.
  • Sie müssen schmerz- und angstfrei sein.
  • Zusätzlich ist es für ein individuelles Tier vielleicht wichtig, dass es regelmässig schwimmen gehen oder auf Bäume klettern und Vögel beobachten darf. Diese individuellen Freuden gehören auch bei Tieren zu einer guten Lebensqualität mit dazu. 

Mit Hilfe solcher Kriterien können wir besprechen, ob ein Leben noch lebenswert ist, bzw. ob eine Behandlung und ihre möglichen Nebenwirkungen tolerierbar sein werden.

So kann zum Beispiel einer Beinamputation zugestimmt werden, wenn das Tier vorher starke Schmerzen hatte und das Bein nicht mehr richtig gebrauchen konnte. Auch wenn dadurch eine Krebserkrankung geheilt werden kann, ist eine Amputation vielleicht eine akzeptable Behandlung. Vorübergehende Nebenwirkungen können in Kauf genommen werden, wenn dafür im Anschluss ein schmerzfreies Leben mit akzeptabler Mobilität in Aussicht steht. Wir Tierärztinnen und Tierärzte sind darauf spezialisiert, Tiere durch solche Phasen hindurch optimal zu begleiten.  

Der Weg zur Wahl der richtigen Therapie ist oft komplex. Es ist wichtig, nicht nur das medizinisch Machbare zu kennen, Tierbesitzer und Tierbesitzerinnen möchten in der Situation oft auch eine moralische Hilfestellung von der behandelnden Tierärztin oder dem behandelnden Tierarzt. Indem wir uns auch in solche ethischen Entscheidungen (... "was soll ich tun" ...) einbringen, kann sichergestellt werden, dass Tiere auch durch schwere Erkrankungen gut begleitet werden und die Tierbesitzer:innen Unterstützung erhalten, im Sinne des Tieres richtig zu entscheiden.  

Prof. Dr. med. vet. Carla Rohrer Bley

Carla Rohrer Bley ist Professorin für Onkologie mit Spezialisierung in Radio-Onkologie (Strahlentherapie). Sie leitet das Team der Onkologie am Universitären Tierspital Zürich.

Sie und ihr Radio-Onkologie-Team retten mit einem hochpräzisen Bestrahlungsgerät täglich Tierleben. Das jetzige Gerät wird 2023 seine Lebensdauer erreicht haben und durch ein neues, den höchsten Standards entsprechendes Gerät ersetzt. Zudem soll es eine Weiterentwicklung der Behandlungsmethoden ermöglichen.

Mehr Informationen und Fakten zur Finanzierung des neuen Bestrahlungsgeräts finden Sie unter: www.uzhfoundation.ch/tierspital oder direkt bei Frau Rohrer Bley unter: crohrer@vetclinics.uzh.ch.